Dies ist eine Interpretation und Analyse des Romans „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink. Eine kurze Zusammenfassung des Inhalts und der Personen findet ihr auf unseren Seiten, hier möchten wir euch ausführlich informieren, womit sich „der Vorleser“ auseinander setzt und welche Themen darin betrachtet werden.
Grundlage dieser Analyse ist der Roman „Der Vorleser“ erschienen im Diogenes Verlag.
In Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ spielen viele Themen eine große Rolle. So ist nicht nur Begriff der Schuld ein zentrales Problem, mit dem sich der Hauptcharakter Michael Berg auseinandersetzen muss, sondern auch die Verantwortung gegenüber verschiedenen Personen. Michael Berg ist ein Jugendlicher, welcher zu Beginn des Romans noch unerfahren und jung ist. Er trifft auf Hanna Schmitz, eine Frau, bei der er langsam lernt selbstständiger zu werden und durch sie viele Seiten des Lebens kennen lernt, welche ihm bisher verschlossen geblieben waren.
Michaels Familie besteht aus ihm selbst, zwei Schwestern und einem älteren Bruder, so wie Vater und Mutter. Der Vater ist ein Philosophieprofessor und hat keinen Bezug zu seiner Familie, der Bruder und Michael haben sich seit der Krankheit Michaels kein gutes Verhältnis mehr, die Schwestern werden im Roman kaum betrachtet. Doch Michaels Familie ist für ihn ein Rückhalt, doch gleichzeitig scheint es auch ein Grund zu sein, warum er sich auf Hanna einlässt. Sie gibt ihm, was er zuhause nicht erlebt, die Geborgenheit und Zuneigung, die er bei Hanna findet, bleibt ihm aus seinem Elternhaus verwährt.
Der Junge lernt durch Hanna Sexualität kennen, bekommt eine erste Ahnung was es heißt sexual aktiv zu sein und lebt nach den Regeln und Ideen Hannas. Sie badet ihn, er muss ihr vorlesen und es wird ein Ritual daraus, erst lieben, später waschen und dann muss Michael Hanna aus Büchern vorlesen.
Der Roman erzählt eine Epoche im Leben Michaels, welche in einem größeren Zeitraum spielt. Der Junge Michael wird zum Mann, schließlich heiratet er und ist erwachsen. Hanna spielt dabei eine große und zentrale Rolle in seinem Leben. Anfangs noch als Mutter, später als Freundin, angesehen, wird die Frau, welche Michael mit nach Hause nimmt, als er einen Zusammenbruch auf der Straße hat, Michaels Lebensmittelpunkt.
Der anfänglich noch naive Junge Michael Berg richtet sein Leben nach ihr, besucht Hanna nach der Schule und lügt seine Eltern an. Er beginnt ein zweites Leben mit Hanna aufzubauen, doch es bleibt eine Distanz zwischen beiden. Sie nennt ihn nur „Jungchen“, er kennt lange ihren Namen nicht und die entstehende Differenz zwischen den beiden, die sich im Bett und beim Baden so nahe sind, erscheint dem Leser merkwürdig und ist ein zentrales Thema des Romans. Die beiden sind sich fremd, kennen sich kaum und sind sich doch so nahe, durch ein Ritual welches aus drei Akten besteht.
Nach jahrelanger Freundschaft zwischen den beiden, verliert Michael Hanna aus den Augen und beginnt daraufhin, ein neues Leben zu entwickeln. Er heiratet, zeugt eine Tochter, doch noch immer kann er Hanna nicht vergessen, er denkt an sie und über sie nach und kommt so auch hinter Hannas Geheimnis.
In dem Textauszug von S.134 – 139, ist ein Gespräch zwischen Michael und seinem Vater dargestellt. Michael sucht Rat bei seinem Vater und möchte ihm eine Frage stellen, die sich mit der Schuld und der Verantwortung Hannas und Michaels befasst. Michaels Schuldgefühle gegenüber Hanna sind groß, doch er möchte ihr helfen, weiß aber nicht, wie er sich verhalten soll. Er hat Hanna, nachdem er mehrere Monate und Jahre keinen Kontakt zu ihr hatte, in einem Prozess wieder gesehen.
Michael ist ein junger Jura-Student und besucht im Rahmen eines Seminars einen Prozess, der sich mit jüdischen Strafgefangenen auseinander setzt. Hanna ist eine der Angeklagten, sie soll als Wärterin in einem jüdischen Lager während eines Feuers in einer Kirche, in der die Gefangenen sich befanden, die Türen nicht geöffnet haben. Daraufhin sind die Menschen in der Kirche alle verbrannt und gestorben. Hanna war nicht die einzige Wärterin, welche anwesend war, doch lastet auf ihr die größte Schuld. Bevor sie als Wärterin gearbeitet hatte, hatte sie ein Stellenangebot als Vorarbeiterin von Siemens vorliegen, hatte es jedoch abgelehnt und war Wärterin geworden. Im Lager soll sie nach Vorlieben entschieden haben, wer abtransportiert werden sollte, alle Gefangen welche ihr vorlasen, durften länger bleiben und wurden nicht sofort in die Konzentrationslager gebracht, außerdem soll sie ein Schreiben verfasst haben, welches als Todesurteil der Juden galt.
Hanna ist die Hauptangeklagte, sie sagt aus und nimmt die Schuld auf sich. Michael, der den Prozess vom ersten Tag an verfolgt und Hanna von früher kennt, erkennt plötzlich dass Hanna Analphabetin ist. Er leitet es aus vielen verschiedenen Aussagen und Erlebnissen ab, so war das Vorlesen von Michael nicht etwa nur ein Teil des Rituals, Hanna konnte die Bücher nicht selber lesen und hat durch Michael die Bücher kennen gelernt. Sie konnte auch nicht seinen Namen auf den Schulbüchern lesen, welche Tag für Tag auf ihrem Tisch lagen, und so wollte sie auch nicht Vorarbeiterin bei Siemens werden, weil sie dafür Qualifikationen im Lesen und Schreiben benötigt hätte. Sie hatte auch nur die einfache Tätigkeit als Schaffnerin ausgeübt, hatte auch hier keine Beförderung angenommen und hatte auch im Lager keine Namen oder Schriften lesen können, geschweige denn einen Brief schreiben können, welcher bestimmte, wer abtransportiert werden sollte. Hanna war also unschuldig, gab es aber aus Scham und Schuldgefühlen nicht zu, sondern nahm alle Schuld auf sich, damit ihre Lebenslüge unerkannt blieb.
Im Gespräch mit seinem Vater, versucht Michael herauszufinden, ob er Hanna helfen kann, in dem er dem Richter erzählt, dass sie Analphabetin ist. Michael weiß nicht, ob er es tun soll, da er Angst vor Hannas Reaktion hat, wenn sie erfährt, dass er ihre Lebenslüge aufgedeckt hat. Doch würde das Strafmaß sicher deutlich milder ausfallen, wenn das Gericht über die Umstände informiert wäre.
Der Textauszug beginnt mit dem Entschluss Michaels mit seinem Vater zu reden. Dabei stellt er jedoch klar, dass es keine Vater-Sohn Beziehung zwischen ihnen gibt (vgl. „Nicht weil wir uns so nahe gewesen wären“), da der Vater mit seinen Kindern nichts anfangen kann und mit den Gefühlen nichts anfangen konnte, die sie ihm entgegenbrachten. Michael stellt die Vermutung auf, dass diese Reaktion seines Vaters aus der Vergangenheit stammt, vielleicht war er als junger Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie über die Jahre absterben lassen. Doch Michael ist genau durch diese Distanz an einem Gespräch mit seinem Vater interessiert. Er möchte die Meinung eines Menschen hören, der von keinen Gefühlen geleitet wird und ihm neutral helfen kann. Der Vater ist Philosoph und Michael möchte dass er das Problem abstrakt erörtert. Auch im nächsten Abschnitt kommt die Distanz zwischen Vater und Sohn hervor. So behandelt der Vater seine Kinder wie seine Studenten und lässt sie warten, bis sie einen Termin haben, um mit ihm zu sprechen.
Michael sucht das Gespräch und das folgende Gespräch ist Inhalt der Textstelle. Michael präsentiert sein Problem und wartet auf die Reaktion seines Vaters. Dieser erkennt sofort, dass Michael sich mit dem Prozess auseinandersetzt (vgl. „Es hat mit dem Prozess zu tun, nicht wahr?“). Doch er erwartet keine Antwort, er will nichts wissen, was Michael nicht von sich aus sagt und will keine Gefühle hinterfragen. Er scheint Verständnis für Michaels Situation zu haben, baut jedoch keinen persönlichen Bezug zum Thema auf.
Der Vater präsentiert die Lösung oder einen Lösungsansatz des Problems, ob Michael den Richter von Hannas Problem erzählen sollte, als weitschweifige Rede. Er belehrt Michael über Person, Freiheit und Würde (vgl. „…über den Menschen als Subjekt und darüber, dass man ihn nicht zum Objekt machen dürfe.“), es scheint als könne er mit dem Problem nichts anfangen und verallgemeinert es.
Im nächsten Abschnitt spricht Michael aus der Zukunft und blickt auf das Gespräch mit seinem Vater zurück. Er hatte es bis zum Tode seines Vaters vergessen und begann daraufhin nach Erinnerungen zu suchen. Das Gespräch war eine der wenigen Dinge, an die er sich erinnern kann. Doch zum Zeitpunkt des Gespräches war Michael eher verwirrt von der Abstraktion seines Vaters, welche gleichzeitig auch anschaulich war.
Michael erkennt von alleine, dass er nicht mit dem Richter reden musste und dass er nicht mit ihm reden durfte, was ihn erleichtert. Der Vater merkt, dass er geholfen hat, allerdings tut er es, ohne es richtig zu wollen. Er gibt Michael unbeabsichtigt die Hilfe, die dieser sich erhofft hat. Doch im nächsten Abschnitt, spricht er nicht als Vater sondern als Philosoph zu Michael und fragt diesen, ob ihm die Philosophie so gefalle. Ob sie als Lösungshilfe in Frage kommt. Er scheint seinen Sohn danach zu fragen, ob ihm der Beruf gefällt, ob ihm die Art und Weise gefällt, wie man Probleme lösen kann. Michael versucht seinem Vater zu erklären warum er nach einer Lösung suchen musste und sagt, dass er nicht wusste, ob man in seiner Situation handeln muss, wenn man eigentlich gar nicht darf.
Ihn beruhigt es, dass man nicht handeln sollte, wobei ihm sein Vater geholfen hat. Der Vater antwortet Michael und beschreibt auch das zentrale Motiv der Verantwortung (vgl. „Natürlich muss man handeln, wenn die von dir beschriebene Situation zugewachsener oder übernommener Verantwortung ist.“). Er sagt, dass Michael noch immer vor der Wahl steht, zu handeln oder nicht, sein Problem habe keine angenehme Lösung. Der Vater sagt weiter, dass man, wenn man wisse was für den anderen gut sei, man versuchen müsse, dem anderen die Augen zu öffnen, ihm jedoch das letzte Wort lassen müsse. Man solle mit der betroffenen Person selber reden, und nicht hinter dem Rücken mit jemand anderem. Mit diesen Worten sagt der Vater Michael, was dieser tun muss, was im Grunde der Wahrheit entspricht, denn Michael sollte das Gespräch mit Hanna suchen, vor dem er große Angst hat. Hanna muss die Wahrheit sagen, wenn sie Strafmilderung will, und Michael sollte auf sie zu gehen und mit ihr darüber sprechen.
Den persönlichen Bezug zu Hanna hat Michael durch die Beziehung in den Jahren zuvor aufgebaut, doch er weiß nicht, was er ihr sagen soll. Er hat Angst, dass sie erfährt, dass er ihre Lebenslüge entdeckt hat und weiß, dass sie sich von ihm nicht sagen lassen wird, dass sie ihr Leben der Lüge opfert, und sich selber verurteilt. Er hat Angst vor der Konsequenz, die sich aus dem Gespräch mit Hanna entwickeln würde und rennt davor weg, in dem er nicht mit ihr redet. Er stellt diese Frage auch seinem Vater, was wäre wenn man nicht mit der Person reden möchte? Der Vater zweifelt und Michael verlässt die moralische Ebene. Er stellt seinem Vater eine persönliche Frage, mit der dieser nichts anfangen kann. Das Gespräch endet damit, was Michael durch die persönliche Frage eingeleitet hat.
Sein Vater redet von seinem eigenen Scheitern seinem Sohn nicht geholfen zu haben und öffnet sich zum ersten Mal im Laufe des Gesprächs emotional. Er sagt dass er als Vater gescheitert ist, er fände die Erfahrung, dass er seinen Kindern nicht helfen kann, schier unerträglich. Michael denkt jedoch, dass sein Vater es sich leicht macht und weiß auch, dass es mehrere Situationen gab, in denen der Vater hätte helfen können. Im nächsten Schritt denkt Michael darüber nach, ob der Vater sich seiner Schuld selbst bewusst ist, was es noch schwerer für ihn macht damit umzugehen.
Der Sohn sieht das Gespräch als beendet an, da er seinem Vater nicht alles sagen kann, was ihn beschäftigt.
Die Textstelle endet mit den Worten des Vaters, dass Michael jeder Zeit kommen könne. Der Sohn glaubt ihm nicht, doch er nickt. Diese plötzliche Vatereinstellung, überrascht Michael, doch er weiß, dass es nicht so ist. Er scheint seinen Vater genauer zu kennen als er angenommen hat und, in dem er auf das Gespräch zurück blickt, sieht er es als positive Erinnerung an und es hilft ihm vielleicht auch, damit umzugehen, dass er nicht mit dem Richter reden darf, weil es um Hanna geht, mit der er sich zuerst auseinander setzen sollte.
Die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung sind zentrale Motive im Roman „Der Vorleser“. Die Schuld Hannas, da sie die Wahrheit nicht nur dem Gericht, sondern auch Michael verschweigt, die Schuldanklage gegen Hanna, da sie die Juden hat verbrennen lassen, die Schuld Michaels gegenüber Hanna, da er dem Richter nicht sagt, dass Hanna Analphabetin ist, die Schuldgefühle Michaels Hanna gegenüber, weil er sie verraten will und die allgemeine Schuldfrage, sind alles Themen im Roman und bilden den roten Faden in der Geschichte. Denn schon Michaels Abstecher in Hannas Wohnung, sprechen ihn, seinen Eltern gegenüber, schuldig. Er lügt sie an, damit er Hanna nahe sein kann, erfindet immer wieder Ausreden für Zuspätkommen und zeitweise Ausflüge. Hannas Schuld gegenüber dem Gericht, da sie ihnen nicht sagt, dass sie Analphabetin ist, hat schwere Konsequenzen für sie, das Gefängnis.
In der Textstelle S.134-139 hat Bernhard Schlink ebenfalls das Motiv der Schuld eingebaut. So geht Michael mit Schuldgefühlen in das Gespräch mit seinem Vater, kurz zuvor hatte er sich noch gefragt, ob das Gespräch mit seinem Vater Hanna schon verraten würde und ob er es deshalb tun sollte. Indem er seinem Vater nur allgemein erzählt, was ihn beschäftigt, verrät er Hanna zwar, allerdings ist die Schwere des Verrats deutlich gemildert.
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