Joseph von Eichendorffs Naturgedicht „Mondnacht“, das 1837 veröffentlicht wurde, gilt als typisches Werk der Romantik. Hierin sehnt sich das lyrische Ich nach der Einheit von Himmel und Erde, an der es selbst teilhat. Diese Verschmelzung von Irdischem und Himmlischem ist das, was klassischerweise als Paradies bezeichnet wird. Im Folgenden findet sich eine Interpretation des Gedichts.
Beispiel einer Gedichtinterpretation - „Mondnacht“
Joseph von Eichendorff
Mondnacht Text:
Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
Die Sehnsucht nach dem Paradies treibt den Menschen von jeher um. Mancher sucht es im Diesseits und viele erhoffen es sich im Jenseits bei Gott. Auch das lyrische Ich in Joseph von Eichendorffs Naturgedicht „Mondnacht“ aus dem Jahr 1837 träumt vom Paradies, das es in der Teilhabe an der Verschmelzung von Irdischem und Himmlischem sieht und die es fast erreicht.
Dieser Einheit von allem nähert sich das lyrische Ich nachts in drei Stufen an, die den drei Strophen des Gedichts entsprechen. Zuerst küssen sich Himmel und Erde wie zwei Verliebte, dann ist die Natur in völligem Einklang und zuletzt fühlt sich das lyrische Ich in diese All-Einheit miteinbezogen und meint, dass seine Seele zu Gott fliegt. Die Bedeutung der Zahl Drei zeigt sich auch in der äußeren Form des Gedichts. So ist jede Strophe ein Satz, wodurch das ganze Gedicht aus drei Sätzen besteht. Außerdem ist das Metrum ein dreihebiger Jambus mit zum Kreuzreim alternierenden männlichen und weiblichen Kadenzen. Durch den gleichmäßigen Rhythmus und durch Enjambements (vgl. V.1.2, V. 3.4 und V. 9.10) wird die harmonische Grundstimmung des Gedichts unterstützt.
Die beschriebenen Naturerscheinungen sind aus romantischer Weltsicht nicht nur als solche zu sehen, sondern sie sind auch ein Chiffre für die Begegnung zwischen Irdischem und Himmlischen. Dies zeigt sich direkt in der ersten Strophe, wo der Himmel die Erde wie eine Geliebte küsst. Allerdings ist es ein stiller Kuss, so dass die Vermutung nahe liegt, dass es sich lediglich um die Idee einer Verbindung von Himmel und Erde handelt. In diese Richtung weisen auch der Neologismus „Blütenschimmer“ (V. 3) und der Konjunktiv (vgl. V. 4). Das lyrische Ich ist sich also nicht sicher, ob die Erde nun wirklich vom Himmel träumt, da sich die Annäherung nur im Blütenschimmer zeigt. Dies weist aber darauf hin, dass sich die Erde zumindest nach dem Himmel sehnt.
In der zweiten Strophe werden die Auswirkungen dieser Annäherung weiter ausgeführt. Die Natur wird zu einer harmonischen Einheit, in der die Sterne eine unendliche Höhe und die Felder und Wälder eine unendliche Weite schaffen. Dies ist ein Hinweis auf Gott, der ebenfalls unendlich ist und nach dem sich das lyrische Ich sehnt. Die Natur ist in dieser Strophe in einem vollkommenen Einklang mit sich selbst. Felder, Wälder und Ähren werden durch einen leichten Wind bewegt (vgl. V. 5) und rauschen dadurch (vgl. V.7). Unterstrichen wird dieser Gleichklang noch durch den Zeilenstil (vgl. V. 5-8) und den parallelen Satzbau (vgl. V.5-6).
Das lyrische Ich geht in dieser Harmonie auf, die es durch verschiedene Sinnesorgane wahrnimmt. Es kann den Wind fühlen (vgl. V. 5), die Bewegung der Ähren sowie die Sterne am Himmel sehen (vgl. V. 6.8) und das Rauschen der Wälder hören (vgl. V. 7). Die Ruhe der Landschaft wird durch Adjektive aus dem Wortfeld „Stille“ charakterisiert. So ist die Rede von einem stillen Kuss bzw. einem stillen Land (vgl. V.1.11), die Ähren wiegen sich sacht (vgl. V. 6) und die Wälder rauschen leise (vgl. V. 7).
In der dritten Strophe tritt dann erstmals das lyrische Ich in Erscheinung, allerdings nur in vergeistigter Form, da von seiner Seele die Rede ist (vgl. 9). Unterstrichen wird dies außerdem dadurch, dass dreimal Wörter aus der Wortfamilie „fliegen“ benutzt werden. Die Seele breitet ihre Flügel aus (vgl. V. 9) und fliegt durch die stille Landschaft (vgl. V. 11) als würde sie heim fliegen (vgl. V. 12). Durch die Metapher des Fliegens verbindet sich die Seele mit der Landschaft, die es zuvor wahrgenommen hat, und worin sich das Einswerden mit der Schöpfung zeigt. Durch den Plural „Lande“ (V. 11) entsteht der Eindruck von Unendlichkeit.
Dass damit letztlich Gott gemeint ist, zeigt sich im letzten Vers, da es sich für das lyrische Ich anfühlt, als flöge es nach Hause, wobei damit die himmlische Heimat bei Gott gemeint ist. Dies wird auch durch die Klammer deutlich, die die Wörter „Himmel“ (V. 1) und „Haus“ (V. 12) bilden. Der Himmel ist das Ziel, das Zuhause der Seele. Das bedeutet, dass die endgültige Erfüllung aller Sehnsucht nur bei Gott zu finden ist. Dass dies nur ein Wunschtraum des lyrischen Ichs ist, spiegelt der Konjunktiv im letzten Vers. Es ist nur, als ob die Seele nach Hause fliegt, sie tut es nicht wirklich. Die Verwirklichung dieser urmenschlichen Sehnsucht bleibt ein Traum der suchenden Seele.
Diese Sehnsuchtsthematik ist typisch für die Epoche der Romantik. Enttäuscht vom Vernunftglauben der Aufklärung wendet man sich wieder dem Gefühl und dem Verborgenen zu. Die Zeit dafür ist die Nacht, da hier Entgrenzung und Traum möglich sind, wie das Gedicht „Mondnacht“ zeigt. Auch die Zuwendung zur Natur ist typisch romantisch. Dabei wird diese idyllisch verklärt, was eine Reaktion auf die Enttäuschungen in der Realität ist. Denn die französische Revolution und die Aufklärung haben nicht erwünschten Änderungen gebracht und durch die Industrialisierung wird der Mensch auf seinen wirtschaftlichen Nutzwert reduziert.
Dies weckt die Sehnsucht nach einer besseren und vor allem harmonischen Welt. In Eichendorffs „Mondnacht“ wird diese All-Einheit fast erreicht, scheitert aber letztlich an der Wirklichkeit. Denn nur im Tod ist die endgültige Verschmelzung aller Dinge und mit Gott möglich.
Autorin: Kirsten Schwebel
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