Die Ringparabel ist der Höhepunkt von Lessings Nathan der Weise. Sie steht nicht nur in der Mitte des Stücks, sondern sie umfasst auch die Mitte aller Verse. Außerdem zeigt sie Nathans Weisheit als Erzieher der Menschen beispielhaft auf. In diesem Artikel wird diese zentrale Stelle des Nathan interpretiert.
In der Ringparabel lebte vor langer Zeit ein Mann im Osten, der einen unschätzbar wertvollen Ring besaß, welcher die geheime Kraft besaß, vor Gott und den Menschen angenehm zu erscheinen, wenn man an diese Kraft glaubt. Der Mann vererbte diesen Ring an seinen Lieblingssohn und verfügte darüber hinaus, dass der Ring immer an den geliebtesten Sohn gehen soll.
Dieser Sohn wird dann der Fürst des Hauses. Irgendwann hatte aber einmal ein Vater seine drei Söhne alle gleichlieb und ließ deshalb zwei Duplikate des Rings anfertigen, welche so gut gelungen waren, dass er selbst auch nicht mehr wusste, welcher der echte Ring war. Dann gab er jedem seiner Söhne einen dieser Ringe und starb. Die Söhne aber stritten sich nun, wer den richtigen Ring bekommen hatte.
Da sie sich nicht einigen konnten, gingen sie zu einem Richter, der sie fragte, welchen Bruder zwei Brüder am meisten lieben, denn dieser müsste dann den Ring mit der Wunderkraft haben. Als sie aber schwiegen, vermutete der Richter, dass der echte Ring verloren ging und sie vom Vater betrogen wurden. Er gab ihnen aber noch eine Rat: Jeder soll an die Kraft seines Ringes glauben und vorurteilsfrei leben. Im Laufe der Zeit würde sich dann erweisen, welches der echte Ring war.
Betrachtet man sich den Anfang der Ringparabel, so wirft dieser bereits die Frage auf, wessen Osten eigentlich gemeint ist. Geht man von Nathan aus, der aus unserer Sicht bereits selbst im Osten steht, dann rückt er als Erzähler näher an uns heran, da er sich nun auch westlich der Geschichte befindet. Das bewirkt, dass die Geschichte zeitlos und ortlos wird. Außerdem stellt sich die Frage, aus wessen lieber Hand der Mann selbst den Ring erhalten hat. Es wird nämlich nicht vom Vater des Mannes gesprochen, so dass die Interpretation einer Religionsstiftung durch Gott naheliegt.
Der Stein des Rings ist ein Opal, welcher von der Antike bis in die Neuzeit ein Symbol für die göttlichen Gnade und Liebe war. Auch die Wunderkraft, „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“ (V. 1915-1916), findet sich bereits in der Bibel. Im Alten Testament wird dies über den jungen Samuel gesagt und im Neuen Testament spricht Lukas so über Jesus.
Durch diesen biblischen Bezug wird die religiöse Bedeutung der Wunderkraft des Rings betont. Nicht nur der Stein hat eine besondere Symbolik, sondern auch die Ringform. Sie symbolisiert das Höchste, da sie keinen Anfang und kein Ende hat. Dies unterstreicht den göttlichen Ursprung des Rings, da Gott selbst häufig als Ring bzw. Kreis beschrieben wird.
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Das Wissen um die Kraft und der Glaube daran sind die Vorbedingung der Wirkung des Rings. Erst dadurch hat der Träger teil an der Kraft des Rings, welche ein Überströmen der Liebe bewirkt, so dass der Ring liebesstiftend ist. Überhaupt prägt das Wort „lieb“ die Parabel, denn der Ring wurde aus lieber Hand empfangen und soll immer von liebstem zu liebstem Sohn weitergegeben werden. Dass nun aber ein liebster Sohn seine drei eigenen Söhne alle gleich lieb hat, verstößt gegen den Grundsatz der Parabel, nach dem es immer nur einen liebsten Sohn geben kann.
Die Lösung ist die Verdreifachung des Rings. Diese entspricht insofern der im Ring repräsentierten Kraft, indem dadurch allen drei Söhnen die geschuldete Liebe erwiesen wird, da der Vater alle seine Söhne gleich liebt. Jeder von ihnen erfährt durch seinen Ring diese Liebe. Der Richter verweist in seinem Richterspruch auf diese Liebesgewissheit (vgl. V. 2031-2040).
Nach der Vervielfältigung des Rings weiß selbst der Vater nicht mehr, welcher der echte Ring ist, obwohl er ein unvergleichliches Farbenspiel hatte, das eigentlich Verwechslungen verhindern sollte.
Der Vater wird so selbst zum betrogenen Betrüger. Die Söhne hingegen betrügen sich selbst um die geheime Kraft des Rings, je mehr sie diese aus Eigennützigkeit erstreben. Denn dadurch verkennen sie, dass der Ring sie gerade zur uneigennützigen Liebe befähigen soll. Wieso er aber nicht wirkt, bleibt ungeklärt. Es liegt nur die Vermutung nahe, dass die Kraft nicht wirkt, weil die Söhne nicht an dem Ring als solchem interessiert sind, sondern an seiner Macht. Der Richter stellt allerdings klar, dass die Kraft nicht im Ring allein liegt, sondern elementar ist das in den Ring gelegte Vertrauen (vgl. V. 2043-2045).
Die Hypothese des Richters, dass der Vater drei Ringe anfertigen ließ (V. 2026-2028), weil der echte Ring verloren ging, stimmt nicht. Am Anfang wird eindeutig gesagt, dass nur zwei weitere Ringe hergestellt werden (vgl. V. 1945-1950). Hinzu kommt noch, dass die Vermutung des Richters nicht zu seinem Rat passt, dass jeder der Brüder von der Echtheit des Ringes überzeugt sein soll. Das wäre völlig unsinnig, wenn der echte Ring verloren ging. Außerdem liefe auch der moralische Appell ins Leere, wenn nicht jeder der Brüder von der Echtheit seines Ringes überzeugt wäre. Es gäbe keinen edlen Wettstreit, da dieser überflüssig wäre.
So unbestimmt, wie die Parabel beginnt, endet sie auch. Die „tausend tausend Jahre“ (V. 2050) des Richters entsprechen den grauen Jahren am Anfang. Der Richter selbst bleibt auch unbestimmt, denn nicht er wird es sein, der dann den Richterspruch fällt, sondern jemand, der weiser ist als er. Er verweist auf einen Weltenrichter, den er schemenhaft andeutet.
Überträgt man nun die Ringparabel auf die drei monotheistischen Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam), dann stellt man fest, dass die drei Brüder und die Anhänger der drei Religionen sich in der gleichen Situation befinden. Dies zeigt sich an den zahlreichen Analogien.
So entspricht die Ununterscheidbarkeit der drei Ringe der Ununterscheidbarkeit der drei Religionen bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes. Außerdem entspricht der Wettstreit der Brüder dem der verschiedenen Religionsanhänger und auch der Rat des Richters, dass jeder der Brüder seinen Ring als den echten annehmen soll, findet seine Entsprechung darin, dass jeder seine eigene, durch seine Vorfahren ererbte Religion als die wahre ansehen soll und normalerweise auch ansieht.
Alles lässt sich aber nicht analog sehen, denn es wäre unsinnig nach einer Entsprechung des Betrugs durch den Vater bei den Religionen zu suchen oder auf die überlegene Wahrheit der jüdischen Religion zu schließen, da der echte Ringe älter als die Imitate ist.
Die Gleichheit der Ringe und somit die Vermächtnisse des Vaters an seine drei Söhne entspricht vielmehr die Situation der drei monotheistischen Weltreligionen. Sie sind alle drei demselben Gott verpflichtet, streiten aber unversöhnlich darum, welche die wahre von Gott gewollte Religion ist. Deshalb liegt die Lösung im Religionsstreit darin, dass jede Religion, im Vertrauen darauf die volle Wahrheit zu besitzen, ihre Überlieferung aufrechterhalten soll. Die Wahrheit einer Religion lässt sich im Diesseits nicht beweisen und ein solcher Beweis widerspricht auch dem Wesen von Religion. Ihre Wahrheit erweist sie aber durch gelebte Humanität und die Toleranz der anderen Religionen.
Autorin: Kirsten Schwebel
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